Am 25. Mai 2017 sind die Verordnungen EU 2017/745 für Medizinprodukte (MDR) und EU 2017/746 für In-vitro-Diagnostika (IVDR) in Kraft getreten. Mit dem 26.05.2021 und dem 25.05.2023 sind nun auch die Übergangsfristen für die beiden Verordnungen vergangen. Nun sind die MDR und die IVDR allein gültig und die MDD oder IVDD können nur noch für Legacy Devices herangezogen werden, und das auch nur bedingt. In der Übergangszeit mussten viele aktuelle Prozesse an die neuen Anforderungen der MDR bzw. IVDR angepasst werden. Zum damaligen Zeitpunkt gab es jedoch keine harmonisierten Normen, was es für Hersteller besonders schwer machte, die Konformitätsvermutung aufzustellen und den Stand der Technik zu berücksichtigen.

Was sind harmonisierte Normen, und wozu brauchen wir sie?

Harmonisierte Normen sind europäische Normen, die, mit dem Ziel den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen auf den europäischen Binnenmarkt zu erleichtern, von den Organisationen CEN, CENELEC und ETSI im Auftrag der Europäischen Kommission und der EFTA herausgegeben werden. Es kann sich dabei um überarbeitete und neu herausgegebene nationale (z.B. DIN, ÖNORM, SN…) oder internationale (ISO…) Normen handeln, aber auch um spezifisch neu ausgearbeitete europäische Normen. Um den Status „harmonsiert“ zu erhalten, müssen die einschlägigen Normen im europäischen Amtsblatt veröffentlicht werden.

Ein wesentliches Merkmal der europäischen Normen ist eine genaue Festlegung der Anforderungen, welche in direktem Bezug zu europäischen Rechtsakten stehen. Durch diese Beziehung kann bei Erfüllung der jeweiligen Normanforderung die Konformität zur Gesetzgebung vermutet werden. Dazu findet sich in den Z-Anhängen der Normen meist eine Referenztabelle, die die Anforderungen in den einzelnen Normkapiteln den einschlägigen Stellen der europäischen Regelwerke zuordnet. Bei der Medizinprodukteverordnung (EU) 2017/745 oder der Verordnung über In-vitro-Diagnostika (EU) 2017/746 wird der Bezug zu den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen hergestellt. Per se dienen harmonisierte Normen also im Rahmen des „New Approach“ dazu, technische Einzelheiten und Lösungen zur Unterstützung der grundlegenden Anforderungen, welche in den jeweiligen Regularien allgemeingültig formuliert sind, zu entwickeln.

Wie steht es um die Harmonisierung relevanter Normen für Medizinprodukte und In Vitro Diagnostika?

Im Juni 2019 hatte die EU Kommission den ersten Entwurf eines Normungsauftrags an CEN / CENELEC veröffentlicht. Darin wurden über 180 Normen für die Harmonisierung unter MDR bzw. IVDR angedacht, welche bis zum Oktober 2024 abgeschlossen sein sollte. Eine konsolidierte Version aller Normungsanträge ist seit April 2021 verfügbar und umfasst über 250 Normen, die größtenteils bis Mai 2028 zu harmonisieren sind. Dass derartige Harmonisierungen komplex sind, ist erwartbar, zumal auch der jeweilige Stand der Technik hierbei eine Rolle spielen dürfte. Ernüchterung tritt mit Blick auf die Anzahl der harmonisierten Normen dennoch ein. So sind Stand November 2024 unter der MDR bislang lediglich 26 Normen harmonisiert, unter der IVDR 15 Stück. Zuletzt kam im Oktober 2024 die EN ISO 13408-1:2024 für Aseptische Herstellung von Produkten für die Gesundheitsfürsorge hinzu.

Somit bleibt die Verantwortung aktuell bei den Herstellern mittels kritischer Bewertung der ausgewählten Normen eine gute Begründung darlegen zu können, weshalb eine Norm, die bislang nicht harmonisiert ist, für die Erfüllung der Grundlegenden Anforderungen geeignet zu sein. Dies betrifft insbesondere die vertikalen, produktbezogenen Normen und weniger die horizontalen Normen.

Doch auch nach Harmonisierung einer Norm stellt sich für viele Hersteller immer wieder eine weitere Frage, nämlich…

Was bedeutet es, den „Stand der Technik“ zu erfüllen, wenn die neueste Ausgabe einer Norm nicht harmonisiert ist?

Um diese Frage zu beantworten, ist es zunächst wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass der Begriff des Stands der Technik nicht einheitlich definiert ist und daher aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten ist. So bewertet die MDCG den Stand der Technik wie folgt:

„Die neuesten Ausgaben der von den Normungsgremien veröffentlichten Normen sollten als Stand der Technik angesehen werden, unabhängig von der Bezugnahme im Amtsblatt“.

Sprich, nicht die harmonisierte Norm bildet den Stand der Technik ab, sondern die neueste Ausgabe einer Norm.

Innerhalb der EN ISO 14971:2019 steht jedoch:

Entwickelter Stand technischer Fähigkeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt in Bezug auf Produkte, Verfahren und Dienstleistungen, basierend auf den einschlägigen konsolidierten Erkenntnissen von Wissenschaft, Technik und Erfahrung

Diese Definition bietet einen weitaus ruhigeren Blick auf den Stand der Technik, was die Aufgabe jedoch nicht weniger komplex macht.

Weitere Definitionen, die hierbei herangezogen werden können, bietet der Leitfaden MDCG 2021-5 „Guidance on standardisation for medical devices“ welcher im Juli 2024 revisioniert wurde.

Doch in wieweit ist auch dieser Leitfaden überhaupt relevant? Immerhin lauten die einleitenden Worte der MDCG Guidances stets:

„Alle in diesem Dokument geäußerten Ansichten sind rechtlich nicht bindend, und nur der Gerichtshof der Europäischen Union kann das Unionsrecht verbindlich auslegen.“ 

Können Hersteller also die Leitfäden guten Gewissens ignorieren? Auch hierzu liefert das bereits genannte MDCG 2021-5 sowie Artikel 1 der MDR wichtige Einblicke:

„[…] wobei der Stand der Technik und insbesondere bereits geltende harmonisierte Normen […] zu berücksichtigen sind

Zu berücksichtigen, aber eben nicht zwingend anzuwenden. Ist eine Anwendung durch den Hersteller (noch) nicht vorgesehen, so sollte er dies dokumentiert darlegen. Denn egal ob es sich um einen harmonisierte Norm, eine Norm außerhalb der Harmonisierung oder auch relevante Leitfäden handelt, so kommt die Auseinandersetzung spätestens über die benannte Stelle erneut zum Tragen. Diesen wir nämlich innerhalb des Anhangs VII Punkt 4.5.1 folgendes auferlegt:

Die Benannte Stelle berücksichtigt wenn dies von Belang ist verfügbare GS, Leitlinien und Dokumente über vorbildliche Verfahren harmonisierte Normen, selbst wenn der Hersteller nicht behauptet, sie einzuhalten.

Die benannte Stelle muss also fragen und wird eine Antwort durch den Hersteller erwarten.

Wie können Lücken in der Konformitätsvermutung geschlossen werden?

Um den Anhang I, also die Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen, zufriedenstellen nachweisen zu können und die Konformitätsvermutung aufstellen zu können, ist es wichtig, dass Hersteller sowohl die harmonisierten Normen als auch den Stand der Technik berücksichtigen. Können nicht alle Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen ausreichend belegt werden, so sollten neben den harmonisierten Normen auch weitere Normen und Leitfäden berücksichtigt werden. Hierbei ist es wichtig, dass die Anwendung der Leitfäden oder Normen nachvollziehbar dargelegt werden können. Vom Hersteller selber erarbeitete Lösungen können ebenfalls genutzt werden, müssen dann aber darlegen, wieso sie gleichwertig zu verfügbaren Normen sind oder wieso sie geeignet sind, die jeweilige Lücke zu schließen.

Auch die teileweise Anwendung einer Norm ist hierbei möglich. Mit Blick auf den Blue Guide, welcher als eine Anleitung zur Umsetzung des New Approach verstanden werden darf, sollten Hersteller jedoch berücksichtigen:

Es bedarf einer klaren Unterscheidung zwischen der „Konformität mit einer Norm” und der „Konformitätsvermutung (bei der Anwendung einer harmonisierten Norm)”. Die „Konformität mit einer Norm” verweist üblicherweise auf eine Situation, in der eine Norm „vollständig angewendet“ wird. Dies ist zum Beispiel bei einer freiwilligen Zertifizierung nach einer Norm der Fall. Zum Zweck einer „Konformitätsvermutung“ genügt es, nur diejenigen Anforderungen anzuwenden, die sich auf die abzudeckenden wesentlichen oder sonstigen rechtlichen Anforderungen beziehen.

Die Angabe innerhalb der Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen sowie auf der Produktkennzeichnung, in der Technischen Dokumentation und in der Konformitätserklärung, ob eine Norm vollständig oder nur teilweise angewandt wurde, ist also sowohl für harmonisierte sowie nicht-harmonisierte Normen relevant, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Was bedeutet all dies nun konkret für die zur Harmonisierung ausstehenden Normen? Nun, man kann vermuten, dass die Normenreihen selbst, welche im konsolidierten Harmonisierungsgesuch aus 2021 aufgelistet sind, weiterhin relevant sind. Mit Blick auf den Stand der Technik aus Sicht der MDCG lohnt es sich, diese zu Sichten und den aktuellsten Ausgabestand der jeweiligen Norm in den Fokus zu rücken. Zusätzlich sollten einschlägige MDCG Guidances zu den jeweiligen Themenbereichen in Betracht bezogen werden. Abschließend gilt es, die Relevanz der jeweiligen Normen für das eigene Produkt kurz darzulegen und zu verdeutlichen, ob eine Norm ganz oder nur in Teilen angewandt wurde. Und sich stets auf Fragen der benannten Stellen gefasst zu machen.

Sie haben selber noch Fragen zu Ihrem speziellen Fall? Wie stehen Ihnen gerne mit Rat und Tat bei.

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