Etablierte Medizinprodukte (sogenannte legacy devices) haben längst nicht ausgedient, bloß weil sie bislang nur unter den Richtlinien bereitgestellt wurden. Was gilt es zu beachten, damit die Produkte nach der Umstellung auf die MDR nicht aus dem Verkehr gezogen werden (müssen)?

Der neue Leitfaden, MDCG 2020-6 „Clinical evidence needed for medical devices previously CE marked under Directives 93/42/EEC or 90/385/EEC“, zeigt Handlungsempfehlungen auf, die es erleichtern sollen, klinische Daten zum Nachweis der Konformität mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen der MDR zu identifizieren, die im Rahmen der technischen Dokumentation für bereits am Markt befindliche Medizinprodukte benötigt werden. Der Begriff „legacy devices“, der nicht in der MDR, aber in der vorliegenden MDCG 2020-6 definiert ist, umfasst alle Medizinprodukte, die unter der MDD 93/42/EEC oder der AIMDD 90/385/EEC die CE-Zertifizierung erlangt haben. In Verbindung damit liefert die MDCG 2020-6 eine Merkmalsdefinition der Medizinprodukte mit einer „well-established technology“:

  • Es handelt sich um ein einfaches und weitgehend gleich gebliebenes Produktdesign, das lediglich behutsamen Evolutionsstufen unterworfen ist.

  • Die generische Produktgruppe, der das betroffene Medizinprodukt angehört, ist im Hinblick auf Sicherheitsaspekte im positiven Sinne etabliert; Bedenken, die Sicherheit betreffend, sind in der Vergangenheit nicht aufgetreten.

  •  Die klinische Leistungsfähigkeit des Medizinprodukts ist nachweislich bekannt.

  • Die zugehörige generische Produktgruppe stellt Standardprodukte der medizinischen Versorgung dar, ohne große zu erwartende Anpassungen im Hinblick auf Indikation, Zweckbestimmung oder den State of the Art.

  • Die betroffenen Medizinprodukte sind schon mehrere Jahre am Markt.

Nur wenn alle diese Aspekte erfüllt sind, kann man von einer „well-established technology“ sprechen.

Die Definition insbesondere der „legacy devices“, die die MDCG 2020-6 als Hilfestellung bei der Einordnung klinischer Daten liefert, kann wesentlichen Einfluss darauf haben, ob ein Hersteller von Klasse-3-Produkten oder implantierbaren Produkten dazu verpflichtet werden kann, klinische Prüfungen gemäß Artikel 61, Absatz 4 der MDR durchzuführen. Die MDR sieht nämlich in Artikel 61, Absatz 6a vor, dass Hersteller von Medizinprodukten oben genannter Klassifizierung von der Verpflichtung zur Durchführung klinischer Prüfungen zum Nachweis der Konformität mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen entbunden sind, falls die betroffenen Medizinprodukte „gemäß der Richtlinie 90/385/EWG oder der Richtlinie 93/42/EWG rechtmäßig in Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen wurden und deren klinische Bewertung

  • sich auf ausreichende klinische Daten stützt und

  • mit den einschlägigen produktspezifischen Spezifikationen für die klinische Bewertung dieser Art von Produkten im Einklang steht, sofern diese GS verfügbar sind“.

Der Knackpunkt in der abschließenden Beurteilung dieser Ausnahmeregelungen besteht in der Deutung des Begriffs „ausreichende klinische Daten“, der in der MDR nicht näher spezifiziert und definiert wird. Insgesamt kann laut Deutung der MDCG 2020-6 nur die Aussage getroffen werden, dass sowohl für die beiden genannten Richtlinien sowie die MDR eine Quantität und Qualität der klinischen Daten gefordert werden, die die Sicherheit, Leistungsfähigkeit und ein positives Risiko-Nutzen-Verhältnis darstellen können, die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen müssen wissenschaftlich valide sein.

Eine allgemeingültige Definition „klinischer Daten“ findet sich hingegen in der MDR, Artikel 2, Absatz 48:

Klinische Daten bezeichnen „Angaben zur Sicherheit oder Leistung, die im Rahmen der Anwendung eines Produkts gewonnen werden und die aus den folgenden Quellen stammen:

  • klinische Prüfung(en) des betreffenden Produkts,

  • klinische Prüfung(en) oder sonstige in der wissenschaftlichen Fachliteratur wiedergegebene Studien über ein Produkt, dessen Gleichartigkeit mit dem betreffenden Produkt nachgewiesen werden kann,

  • in nach dem Peer-Review-Verfahren überprüfter wissenschaftlicher Fachliteratur veröffentlichte Berichte über sonstige klinische Erfahrungen entweder mit dem betreffenden Produkt oder einem Produkt, dessen Gleichartigkeit mit dem betreffenden Produkt nachgewiesen werden kann,

  • klinisch relevante Angaben aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen, insbesondere aus der klinischen Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen.“

Die MDCG 2020-6 weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „legacy devices“ zwar im Hinblick auf die ursprüngliche Zulassung und die damit nachgewiesene Konformität mit den GSPRs im Rahmen der zu diesem Zeitpunkt gültigen Rechtslage zu betrachten sind, ab Gültigkeitsdatum der MDR gelten jedoch insbesondere für den Bereich PMCF und PMS dann die Vorgaben der MDR. Dies sollten Hersteller von „legacy devices“ im Rahmen der klinischen Betrachtung ihres Produkts beachten.

Auch wenn die MDR keine explizite Definition „ausreichend klinischer Daten“ vorgibt, so weist die MDCG 2020-6 darauf hin, dass man letztlich darunter das Ergebnis einer qualifizierten Bewertung versteht, die die Schlussfolgerung zulässt, die betrachteten Medizinprodukte seien sicher und erfüllten den angedachten medizinischen Nutzen. Darüber hinaus wird hervorgehoben, dass diese Bewertung, wie die Durchführung der klinischen Bewertung selbst, ein fortlaufender Prozess ist.

Um für die verschiedenen Phasen der klinischen Bewertung für bereits im Markt befindliche Medizinprodukte unter der Vorgabe der MDR (Anhang XIV, Teil A der MDR) klare Handlungsanweisungen bereitzustellen, geht die MDCG 2020-6 auf jede einzelne dieser Phasen ein:

Phase 0: Plan zur klinischen Bewertung und dessen Aktualisierung

Die MDCG 2020-6 merkt an, dass im Fall von „legacy devices“ Gesichtspunkte wie „Erstanwendung am Menschen (‚First-in-man‘-Studien), Durchführbarkeitsstudien und Pilotstudien“ keine Anwendung finden, sehr wohl aber die anderen genannten Punkte wie beispielsweise Spezifizierung der Zweckbestimmung, Indikationen, Kontraindikationen oder die Zielgruppen auf Anwenderseite. Ebenso wichtig ist die klinische Überwachung nach dem Inverkehrbringen, die im Rahmen der MDR grundlegend von hoher Bedeutung ist, sowohl deren genaue Planung als auch die Umsetzung.

Phase 1: Identifikation relevanter klinischer Daten

Letztlich gilt es, alle verfügbaren klinischen Daten zu identifizieren, sowohl für das Produkt selbst als auch für das mögliche Äquivalenzprodukt. Die Definition der klinischen Daten ergibt sich nach wie vor aus Artikel 2, Absatz 48 der MDR, hier unterscheidet sich die Vorgehensweise bei den „legacy devices“ nicht von anderen Fällen. Insbesondere im Beobachtungsfeld nach dem Inverkehrbringen können PMS-Daten aus dem eigenen Vigilanz-System (Reklamationen, Vorkommnisse), Ergebnisse aus durchgeführten PMCF-Studien oder auch Registerdaten als Datenquellen für „legacy devices“ herangezogen werden. Bei etablierten Technologien, auf denen das betroffene Medizinprodukt basiert („well-established technology“), können auch Daten ähnlicher Produkte Verwendung finden.

Phase 2: Beurteilung relevanter klinischen Daten

Hier ergibt sich kein Unterschied zur generellen Vorgehensweise bei der Beurteilung von klinischen Daten: Bestimmung der methodologischen Qualität der erhobenen Daten zur Klassifizierung der Evidenz im Gesamtkontext der klinischen Bewertung unter Verwendung verifizierter und validierter Beurteilungstools.

Phase 2a: Generierung neuer klinischer Daten

Die MDCG 2020-6 weist darauf hin, dass für am Markt etablierte Produkte gemäß MEDDEV 2.12/2 im Normalfall klinische Daten aus der Post-Markt-Phase vorhanden sein müssten; dennoch kann es der Fall sein, dass zwar Daten vorhanden sind, diese aber nicht den Anforderungen der MDR genügen und auch die Erhebung klinischer Daten über den Äquivalenzvergleich nicht mehr möglich ist (siehe auch MDCG 2020-5). Dann wird die Generierung neuer klinischer Daten für die Erlangung der CE-Kennzeichnung unter der MDR notwendig.

Phase 3: Analyse der klinischen Daten

Festlegung, ob die in den vorherigen Phasen der klinischen Bewertung gesammelten und beurteilten klinischen Daten ausreichend sind, die Konformität mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen zu erfüllen. Basis für diese Festlegung ist die Anwendung quantitativer und qualitativer, analytischer Methoden oder auch die Identifikation möglicher Lücken in der Argumentation bzw. fehlender Daten.

Die Art des klinischen Nutzens hängt maßgeblich vom zu bewertenden Produkt selbst und seiner Zweckbestimmung ab. Während direkter klinischer Nutzen explizit anhand von klinischen Daten nachgewiesen werden sollte, sind beim Nachweis des indirekten klinischen Nutzens andere Quellen gefragt, beispielsweise Daten aus präklinischen oder Bench-Tests.

Bei der Analyse des Risikos spielt die Kombination aus Auftretenswahrscheinlichkeit und Schweregrad der Gefährdung die entscheidende Rolle; diese Betrachtung erfolgt im zentralen Risikomanagement des Herstellers, das generell vorgehalten und kontinuierlich gepflegt werden muss. Dazu schreibt die MDR in Anhang 1 vor, dass der Hersteller mögliche Risiken so weit wie möglich reduzieren muss, dazu gehören die Einschätzung und die Abschätzung von Risiken, die aus einer vorhersehbaren Fehlverwendung des Medizinprodukts entstehen können.

Bezogen auf die Aspekte Risiko-Nutzen-Abwägung, State of the Art und alternative Behandlungsmethoden ergibt sich in der MDCG 2020-6 folgende „Anleitung“: Zur stringenten Abbildung alternativer Behandlungsmethoden, die für fast alle „legacy devices“ in mehr oder weniger großem Umfang verfügbar sind, ist es von großer Wichtigkeit, sich primär auf diejenigen zu beschränken, die dem aktuellen Standard entsprechen. Es ist nicht sinnvoll, sich auf nicht mehr ausgeübte Alternativen zu stützen. In diesem Zusammenhang ist der State of the Art und dessen Darstellung von großer Bedeutung, da so die Einordnung alternativer Behandlungsmethoden nachweislich unterfüttert werden kann. Jedoch sollte man auch bei dieser Vorgehensweise im Hinterkopf behalten, dass es zum wissenschaftlichen Diskurs gehört, unterschiedliche Meinungen und Ansichten zu diskutieren. Diese sollten, soweit sie bestehen, ebenso dargestellt und kommentiert werden. Eine Hilfestellung zur Identifikation des „wahren“ State of the Art können dabei immer Leitlinien der jeweiligen Fachgesellschaften liefern, die je nach Evidenzgrad mehr oder weniger valide Grundlagen liefern.

Aufbauend auf den Vorgaben der MDR empfiehlt es sich für die Hersteller, eine Gap-Analyse bezogen auf das klinische Datenmaterial durchzuführen und bei vorliegenden Lücken in bestimmten Bereichen klinische Daten zu sammeln. Die Durchführung einer klinischen Studie bietet sich an, was jedoch sehr teuer und zeitintensiv sein kann, ein systematisches Review vorhandener Literatur kann hier beispielsweise eine Alternative sein. Sollten sich nicht alle Lücken schließen lassen, hat das zwangsläufig zur Folge, kritisch die Claims und Zweckbestimmung, aber auch direkt die Indikationsstellung zu prüfen; alle Aspekte, die sich nicht mit relevanten Daten belegen lassen, müssen entfernt werden, mit allen sich daraus ergebenden Folgen auf regulatorischer und vor allem kaufmännischer Seite. Der Mangel an validen klinischen Daten wird vor allem für viele „legacy devices“ zum Tragen kommen. Die MDCG 2020-6 gibt jedoch den Hinweis, dass für Produkte niedriger Risikoklassen mit geringer Evolutionsstufe letztlich die Möglichkeit in Betracht gezogen werden kann, auch mit einer limitierten klinischen Evidenz weiterhin die Konformität mit den GSPRs nachzuweisen – dies muss dann jedoch im Einzelfall überprüft werden. Dies gilt auch für die Vorgabe der Notwendigkeit von PMCF-Daten: Ebenso für „well-established technologies“ mit keinem oder sehr niedrigem Risiko kann die Forderung nach dem Erheben von klinischen Daten laut werden, jedoch weist auch hier die MDCG 2020-6 darauf hin, dass die Evidenz der klinischen Daten mit Sicherheit niedriger anzusetzen ist. Womöglich reichen auch die Ergebnisse eines wohlbegründeten und rigide ausgeführten PMS-Systems des Herstellers, aus dem sich auf Basis aller erfassten Reklamationen und Sicherheitsmeldungen ein gutes klinisches Bild des entsprechenden Medizinprodukts zur Sicherheit und Leistungsfähigkeit ableiten lässt. Für innovative und neue Technologien, aber auch für Hochrisikoprodukte wird diese Vorgehensweise vermutlich nicht funktionieren, denn auch wenn in der Vergangenheit bereits fleißig klinische Daten in der Marktphase gesammelt wurden, entsprechen diese nicht zwangsläufig den Anforderungen der MDR, auch hier ist dann im Einzelfall zu prüfen.

Die MDCG 2020-6 gibt in ihren Anhängen abschließend noch hilfreiche Hinweise zu den Themen:

  • Die Verknüpfung der MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 mit diesem Guidance-Dokument hinsichtlich weiterführender Informationen zur konkreten Umsetzbarkeit

  • Eine mögliche Gliederung eines Plans zur klinischen Bewertung, der alle relevanten Anforderungen der MDR in Verbindung mit „legacy devices“ abdeckt

  • Eine Übersicht zur qualitativen Einordnung von klinischen Daten im Rahmen des Nachweises der Konformität mit den GSPRs für „legacy devices“

Bei der praktischen Umsetzung der Anforderungen der MDR und bezogen auf die Empfehlungen des vorliegenden MDCG-Guidance-Dokuments sind diese Anhänge für Hersteller von „legacy devices“ eine dringende Empfehlung. Die seleon GmbH unterstützt Sie gerne bei der Bewertung Ihrer etablierten Medizinprodukte und deren klinischen Daten. Damit Altbewährtes auch in der Zukunft einen Platz hat.

 

Bitte beachten Sie, dass alle Angaben und Auflistungen nicht den Anspruch der Vollständigkeit haben, ohne Gewähr sind und der reinen Information dienen.