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Mikroplastik in Medizinprodukten: Was REACH verlangt – und wie Hersteller reagieren sollten
Mit der Veröffentlichung des Eintrags 78 in Anhang XVII der REACH-Verordnung hat die Europäische Union eine der weitreichendsten Regulierungen zur Eindämmung von Mikroplastik in Kraft gesetzt. Seit dem 17. Oktober 2023 ist das Inverkehrbringen von synthetischen Polymermikropartikeln (SPM) in vielen Anwendungen verboten – und auch die Medizinproduktebranche bleibt davon nicht unberührt.
Für Hersteller ergibt sich damit akuter Handlungsbedarf: Welche Produkte sind betroffen? Welche Ausnahmen bestehen? Und wie lassen sich Material Compliance und Marktzugang langfristig sichern?
Was wird reguliert?
Der Eintrag 78 verbietet seit dem 17. Oktober 2023 grundsätzlich das Inverkehrbringen von synthetischen Polymermikropartikeln (SPM) – entweder als eigenständiger Stoff oder in Gemischen, sofern die Konzentration 0,01 Gewichtsprozent überschreitet. Die Definition der betroffenen Partikel ist präzise gefasst:
- Feststoff nach physikalischer Definition.
- In Partikeln enthalten oder als kontinuierliche Beschichtung auf Partikeln vorhanden, wobei:
- das Polymer mindestens 1 % des Partikelgewichts ausmacht und
- mindestens 1 % der Partikel entweder:
- alle Dimensionen ≤ 5 mm haben oder
- eine Länge ≤ 15 mm und ein Längen-Durchmesser-Verhältnis > 3 (faserartig) haben.
Ausgenommen sind natürliche, nicht chemisch modifizierte Polymere sowie Polymere, die entweder biologisch abbaubar oder wasserlöslich (mehr als 2 g/L) sind. Auch polymere Strukturen ohne Kohlenstoffanteile fallen nicht unter die Regelung.
Medizinprodukte im Fokus: Ausnahmen und Fristen
Für Medizinprodukte sieht die Verordnung differenzierte Regelungen vor. Arzneimittel für Human- und Tieranwendungen, die unter die Richtlinie 2001/83/EG beziehungsweise die Verordnung (EU) 2019/6 fallen, sind vollständig vom Anwendungsbereich des Eintrags 78 ausgenommen. Hier ist kein zusätzlicher Nachweis erforderlich.
Anders verhält es sich bei Medizinprodukten im Sinne der Verordnung (EU) 2017/745, die in stofflicher oder flüssiger Form – also als Substanz oder Gemisch – in Verkehr gebracht werden. Für diese Produkte gilt eine Übergangsfrist von sechs Jahren. Bis zum 17. Oktober 2029 dürfen sie weiterhin verkauft werden, sofern keine anderweitige Einschränkung greift.
Nach Ablauf der Übergangsfrist müssen betroffene Produkte entweder
- frei von SPM sein oder eine Konzentration unterhalb der 0,01-Gewichtsprozent-Grenze aufweisen,
- auf degradierbaren oder wasserlöslichen Polymeren basieren – mit entsprechendem Nachweis,
- oder unter eine der in der Verordnung vorgesehenen Derogationen (Paragraphen 4 oder 5) fallen.
Die zulässigen Ausnahmeverwendungen betreffen unter anderem Anwendungen, bei denen die Partikel durch technische Mittel vollständig zurückgehalten werden (etwa in Filtern), sich während der Anwendung in ihrer physikalischen Struktur dauerhaft verändern (z. B. durch Koaleszenz zu einem Film), oder in eine feste Matrix eingebunden sind (wie bei faserverstärkten Implantaten).
Medizinprodukt mit oder ohne Mikroplastik? Die Uhr zur Umstellung tickt. (Quelle: ECHA)
Pflichten bestehen auch bei Ausnahmen
Von zentraler Bedeutung ist: Auch wenn ein Medizinprodukt ausnahmsweise zulässig bleibt, entbindet dies nicht von allen regulatorischen Anforderungen. So greifen unter anderem folgende Verpflichtungen:
Informationspflicht (IFUD) gemäß Paragraph 7:
Hersteller müssen geeignete Hinweise zur sicheren Anwendung und Entsorgung bereitstellen, insbesondere dann, wenn eine Freisetzung der Partikel bei bestimmungsgemäßer Anwendung nicht ausgeschlossen werden kann. Die Informationspflicht gilt sowohl für industrielle als auch für professionelle und private Anwendungen. Beispielhaft sei ein resorbierbares Wundgel genannt, das während der Anwendung zerfällt – hier muss der Produktinformation entnommen werden können, dass keine umweltrelevanten Partikel freigesetzt werden.
Berichtspflicht gemäß Paragraph 12:
Bei der Abgabe an professionelle Anwender oder Endverbraucher ist jährlich eine Abschätzung der freigesetzten SPM-Mengen vorzunehmen und an die zuständige Behörde zu melden. Dies betrifft in der Regel den ersten Akteur in der EU-Lieferkette, etwa Hersteller oder Importeure.
Nachweispflicht:
Die Inanspruchnahme einer Ausnahme muss auf Anfrage nachvollziehbar dokumentiert werden können. Behörden erwarten in diesem Zusammenhang technische Angaben zur Partikelgröße, zur physikalischen Einbindung im Produkt sowie gegebenenfalls Freisetzungsanalysen oder Verwendungsnachweise.
Für die Umsetzung der Pflichten wurden zuletzt Guidance-Dokumente von der EU-Kommission veröffentlicht.
Compliance beginnt nicht erst bei der CE-Kennzeichnung
Die REACH-Beschränkung zu Mikroplastik ist kein Schnellschuss, sondern Ausdruck einer langfristig angelegten Umweltstrategie der EU. Für Hersteller von Medizinprodukten bedeutet sie eine neue Dimension regulatorischer Sorgfaltspflichten – mit unmittelbaren Auswirkungen auf Produktentwicklung, Marktzugang und strategisches Risikomanagement.
Um frühzeitig die richtigen Weichen für eine Material Compliance zu stellen, lohnt sich der Aufbau einer belastbaren Material Compliance Strategie. seleon unterstützt Hersteller in diesem Prozess mit individuellen Workshops, Portfolioanalysen und praxisnaher Umsetzungsbegleitung.
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