Unter der klinischen Bewertung von Medizinprodukten versteht man einen systematischen und geplanten Prozess, der zur kontinuierlichen Generierung, Sammlung, Analyse und Bewertung der klinischen Daten eines bestimmten Produkts beiträgt. Damit werden auch die Sicherheit und Leistung, einschließlich des klinischen Nutzens, eines Produkts für die vom Hersteller vorgesehene Verwendung überprüft. In der MDR ist der Umfang und die Gewichtung der klinischen Bewertung wichtiger als es in der MDD war. Die klinische Bewertung ist Teil der Medizinprodukteentwicklung und muss mit den Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen (GSLA) konform sein, damit das Produkt für konform erklärt werden und die CE-Kennzeichnung erhalten kann. Somit muss eigentlich jeder Medizinproduktehersteller diesen Prozess mit seinem Produkt durchlaufen.

Forderungen und Ziele der klinischen Bewertung

Das Hauptziel einer jeden klinischen Bewertung ist es die Sicherheit und Leistung des Medizinproduktes in der klinischen Anwendung nachzuweisen. Als Teil des Konformitätsbewertungsverfahrens zur Erlangung der CE-Kennzeichnung stellt sie einen wichtigen Prozess dar. Es gibt abseits der MDR einige Leitlinien/Normen, die bei der Erstellung der klinischen Bewertung beachtet werden müssen, wie z.B. die MDCG 2020-5,2020-6 und weiterhin auch die MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 (2016). Aber auch Anforderungen aus der ISO 14155, die sich mit der Planung und Durchführung klinischer Studien beschäftigt

Hauptforderungen:

  • Nachvollziehbarkeit der Literaturrecherche durch Angabe von Suchbegriffen, Verknüpfungen und durchsuchten Datenbanken (mindestens zwei Datenbanken wie Embase oder Pubmed müssen einbezogen werden)
  • Nachvollziehbare Kriterien für alle Schritte (Einschluss, Ausschluss, Bewertung, Festlegung und Dokumentation der angewandten Kriterien)
  • Berücksichtigung von positiven und negativen Ergebnissen, Objektivität muss gegeben sein
  • Bewertung der Literatur
  • Selektion von qualitativ hochwertigen Publikationen, Aussagekraft einzelner Publikationen bewerten
  • Bewertung nach Qualität und Publikation
  • Vergleichbarkeit des bewerteten Produktes in technischer, klinischer und biologischer Hinsicht
  • Die bewertenden Personen müssen entsprechende Qualifikation haben (medizinisches Wissen, Kenntnisse über Anwendung des Produktes, Erfahrung mit wissenschaftlicher Literaturrecherche)

Durch die erforderliche Aktualisierung der klinischen Bewertung ergeben sich somit zwei Phasen: Vor und nach der Markteinführung des Medizinproduktes. Im Vorfeld muss der Hersteller eines Medizinproduktes für die Zulassung beweisen, dass es die angegebene Leistung erfüllt und sicher ist. Darauf muss die klinische Bewertung durchgeführt werden. Bei implantierbaren Produkten und Klasse III-Produkten ist eine klinische Prüfung erforderlich, es sei denn:

  • das betreffende Produkt wurde durch Änderungen eines bereits von demselben Hersteller in Verkehr gebrachten Produkts konzipiert,
  • der Hersteller hat nachgewiesen, dass das geänderte Produkt dem in Verkehr gebrachten Produkt gleichartig ist (siehe Vorgaben der MDCG 2020-5), und dieser Nachweis ist von der benannten Stelle bestätigt worden und
  • die klinische Bewertung des in Verkehr gebrachten Produkts reicht aus, um nachzuweisen, dass das geänderte Produkt die einschlägigen Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllt.

Die klinische Bewertung ist es, die gewisse Maßnahmen im Risikomanagement rechtfertigt und ist somit ein wesentlicher Teil dafür. Nach der Markteinführung muss die klinische Bewertung durch fortlaufendes Monitoring im Hinblick auf die klinische Leistungsfähigkeit und die Sicherheit aktualisiert werden. Hierbei müssen insbesondere technische Anpassungen und Optimierungen des Produktes neu bewertet werden als auch Daten aus der Post-Market Surveillance des eigenen Produktes sowie Daten der betrachteten Produktgruppe berücksichtigt werden.

Die klinische Bewertung und die MDR

In der MDR wird die klinische Bewertung in Artikel 61 und Anhang XIV geregelt, der Begriff an sich wird auch in den Begriffsbestimmungen definiert. Durch die Umstellung von der MDD auf die MDR gibt es einige Auswirkungen auf die klinische Bewertung, aber grundsätzlich soll die klinische Bewertung weiterhin auf Basis vorhandener klinischer Daten erstellt werden können.

  • Aktualisierung während des gesamten Produktlebenszyklus ist weiterhin erforderlich
  • Für Klasse III-Produkte und implantierbaren Produkte sollten klinische Daten grundsätzlich aus klinischen Prüfungen stammen; die MDR lässt jedoch Ausnahmen in bestimmten Konstellationen zu, siehe auch MDCG 2020-5 sowie Artikel 61(4) bis 61(6b) MDR
  • Eine Ausnahme für aktive implantierbare Medizinprodukte entfällt
  • Für Klasse III-Produkte und einige Klasse IIb-Produkte kann zusätzlich eine Behörde bzw. Expertengremium konsultiert werden, um die „Strategie für die klinische Entwicklung und die Vorschläge für eine klinische Prüfung zu prüfen“ (Artikel 61, Absatz 2 MDR)

Aber nicht immer sind klinische Daten zum Nachweis der Übereinstimmung mit grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen auf der Grundlage klinischer Daten notwendig. Artikel 61(10) MDR führt aus: Wird der Nachweis auf Basis klinischer Daten für ungeeignet erachtet, ist jede solche Ausnahme auf der Grundlage des Risikomanagements des Herstellers und unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale des Zusammenspiels zwischen dem Produkt und dem menschlichen Körper, der bezweckten klinischen Leistung und der Angaben des Herstellers angemessen zu begründen. Dies wird insbesondere bei Produkten anwendbar sein, die einer geringen Risikoklasse angehören oder aber zum absoluten „Standard of Care“ Bereich zugeordnet werden können, also einfache Verbrauchsprodukte in der täglichen klinischen Routine darstellen. Allerdings kann man das nicht pauschalisieren, jeder Fall muss, wie ausgeführt, entsprechend begründet werden.

Die MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 (2016) und die MDCG 2020-5 und 2020-6 als Leitlinien

Beim Umsetzen der Anforderungen an die klinische Bewertung geht man gemäß dem Leitfaden in der MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 (2016) sowie den MDCG-Leitfäden 2020-5 und 2020-6 vor. Diese Leitlinien sind allgemein und von den Benannten Stellen anerkannt und stellen strenge Anforderungen an den Nachweis der Sicherheit und Leistung von Medizinprodukten, die Äquivalenz von Produkten und klinische Daten von Altprodukten. Ein wichtiger Aspekt ist die kontinuierliche Aktualisierung der Daten über den gesamten Produktlebenszyklus!

Gemäß der Leitlinien soll man sich bei der klinischen Bewertung an folgende Schritte halten:

  • Schritt 0: Planung
    Ziel und Aufbau der klinischen Bewertung darlegen, Einordnung der Produktentwicklung (bekannte/neue Technologie, neue Applikation), Verwendungszweck
  • Schritt 1: Identifizierung
    Sammlung klinischer Daten, Äquivalenzbetrachtung, mögliche Quellen: wissenschaftliche Literatur, klinische Erfahrung, klinische Prüfung
  • Schritt 2: Beurteilung
    Einzel-Evaluation der Daten, Bewertung anhand festgelegter Kriterien (Ist Quelle sicher? Gibt Quelle Informationen zu Nutzen und Sicherheit des Produktes?)
  • Schritt 3: Analyse
    Gesamtbewertung der relevanten Daten, um zu beurteilen, ob Nachweis der Leistung und Sicherheit des Medizinproduktes gegeben ist. Kriterien: Aussagekraft der Daten, Schlussfolgerungen zu Nutzen und Sicherheit des Produktes; qualitative oder quantitative Auswertung möglich
  • Schritt 4: Bericht
    Logisch aufgebauter Report über die Bewertung mit Begründungen und Dokumentation der Schritte, dokumentiert alle einzelnen Schritte (Clinical Evaluation Report)

Allgemeine Prinzipien der MEDDEV:

  • Voraussetzung: Klinische Bewertung muss aktiv aktualisiert werden. Mindestens jährlich bei Medizinprodukten mit erheblichem Risiko oder Produkten, die noch nicht gut etabliert sind. Bei Produkten, von denen kein hohes Risiko erwartet wird, alle 2-5 Jahre. Die Aktualisierung fällt meistens mit einem Audit der Benannten Stellen zusammen und/oder der Erneuerung des Zertifikats zusammen.
  • Die neuen Daten für die Aktualisierung kommen meist aus der klinischen Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen (Post-Market Clinical Follow-Up PMCF). Wobei unter den Begriff PMCF auch Daten aus der Literatur fallen, zum aktuellen bzw. aktualisierten Stand der Technik oder zu äquivalenten/relevanten, ähnlichen Produkten
  • Bestätigung: Klinische Beweise sind noch vorhanden, welche die Konformität mit den GSLA bestätigen und dabei auch die klinische Sicherheit und klinische Leistung miteinbeziehen.
  • Bestätigung: Übereinstimmung zwischen den Daten aus der Analyse und dem aktuellen Stand der Technik ist gegeben.

Obwohl rein formal nicht mehr aktuell, ist die Bedeutung der MEDDEV als Leitlinie für Hersteller und Benannte Stellen nach wie vor groß. Aktuell sind jedoch auch neue Regelwerke im Bereich klinische Bewertung in den Startlöchern, sowohl eine „neue“ Version der MEDDEV Leitlinie als auch eine ISO Norm zum Thema (ISO 18969) werfen ihre Schatten voraus, erste Entwürfe sind bereits verfügbar und festigen bzw. präzisieren die Anforderungen der MDR. Inhaltlich wurden in der MEDDEV Leitlinie der Revision 4 Anforderungen aus den EU-Verordnungen/Richtlinien übernommen, womit auch die Anforderungen an die Durchführung und Dokumentation der klinischen Bewertung beschrieben werden. Zusätzlich enthält die Leitlinie Beispiele für die Dokumentation der Literaturrecherche, Bewertung und Analyse der klinischen Daten. Zwar ist diese Leitlinie rechtlich nicht verpflichtend, jedoch wird ihre Anwendung (noch) erwartet.

In die Bewertung müssen Daten aus folgenden Bereichen einbezogen werden:

  • Regulatorische Aspekte
  • Literaturüberprüfung, sowohl zum aktuellen Stand der Technik als auch zur zu bewertenden Produktgruppe bzw. äquivalenten/relevanten, ähnlichen Produkten
  • Design Dossier / technische Spezifikationen
  • Risiko/Nutzen-Bewertung
  • Präklinische Studien/Testungen
  • Klinische Prüfung an dem tatsächlichen oder gleichwertigen Produkt
  • Post Market Surveillance am eigenen sowie mindestens einem gleichwertigen Produkt (falls zutreffend)

Die Daten für eine klinische Bewertung können folgendermaßen bezogen werden: Durch

  1. Wissenschaftliche Literatur:
    B. publizierte/unpublizierte Studien über äquivalentes Produkt mit Nachweis der Gleichartigkeit in biologischer, klinischer und technischer Hinsicht, Fachliteratur, Handlungsempfehlungen von Fachgesellschaften etc.
  2. Klinische Erfahrungsdaten:
    klinische Erfahrungen, die in Bezug zum Produkt stehen, z.B. Post-Market Surveillance Daten mit Vorgängerprodukt und/oder von Wettbewerbsprodukten, Post-Market Clinical Follow-Up Studien (z. B. Beobachtungsstudie) mit dem eigenen Produkt
  3. Klinische Prüfung:
    Daten werden durch eine klinische Prüfung selbst erhoben
Allgemeine Prinzipien der MDCG 2020-5 und 2020-6

In gleichem Wortlaut wie die MDR verlangt die MEDDEV 2.7/1 Rev.4, dass bei der Erstellung einer klinischen Bewertung auf Basis des Äquivalenzprinzips technische, biologische und klinische Charakteristika bei der Bewertung der Äquivalenz Beachtung finden müssen. Unterschiede zwischen MDR und der MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 ergeben sich in den Kriterien der Bewertung dieser drei Charakteristika, welchen sich das MDCG 2020-5 „Clinical Evaluation – Equivalence: A guide for manufacturers and notified bodies“ Dokument widmet. Auf die Grenzen der grundsätzlichen Zulässigkeit des Äquivalenzverfahrens geht die MDCG 2020-5 ebenfalls ein. Dies betrifft Hersteller von Klasse 3 Produkten sowie implantierbaren Produkten. Die Äquivalenzbetrachtung ist nur in zwei Fallkonstellationen überhaupt zulässig, unabhängig von der inhaltlichen Ausgestaltung der Äquivalenzbetrachtung. In allen anderen Fällen wird der Nachweis der Sicherheit und klinischen Leistungsfähigkeit nur noch anhand von klinischen Prüfungen stattfinden können, vorbehaltlich möglicher weiterer Ausnahmeregelungen wie beispielsweise in Artikel 61(6b) MDR beschrieben.

Für Produkte ohne medizinischen Verwendungszweck gemäß Anhang XVI der MDR wie beispielsweise Kontaktlinsen oder Geräte zur transkraniellen Stimulation des Gehirns sollten grundsätzlich klinische Prüfungen durchgeführt werden, es sei denn, es liegen klinische Daten eines analogen Medizinproduktes vor; analog bedeutet Produkt mit ähnlicher technischer Basis und Risikoprofil, jedoch mit medizinischem Verwendungszweck

Die MDCG 2020-6 „Clinical evidence needed for medical devices previously CE marked under Directives 93/42/EEC or 90/385/EEC“ zeigt Handlungsempfehlungen auf, die es erleichtern sollen, klinische Daten zum Nachweis der Konformität mit den grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen zu identifizieren, die im Rahmen der technischen Dokumentation für bereits am Markt befindliche Medizinprodukte benötigt werden. Zum einen wird der Begriff des „Legacy Device“ definiert, zum anderen wird eine Merkmalsdefinition des Begriffs „well-established technology“ geboten. Auch wenn die MDR keine explizite Definition für den Begriff„ausreichend klinische Daten“ vorgibt, so weist die MDCG 2020-6 darauf hin, dass man letztlich darunter das Ergebnis einer qualifizierten Bewertung versteht, die die Schlussfolgerung zulässt, die betrachteten Medizinprodukte seien sicher und erfüllten den angedachten medizinischen Nutzen. Darüber hinaus wird hervorgehoben, dass diese Bewertung, wie die Durchführung der klinischen Bewertung selbst, ein fortlaufender Prozess ist und nie als Momentaufnahme verstanden werden kann.

Die beiden MDCG Dokumente sind weiterhin in Verbindung mit der MEDDEV 2.7/1 Rev. 4 zu lesen und sollten nicht eigenständig als Leitfaden für die Erstellung einer klinischen Bewertung nach MDR Vorgaben angewandt werden, sondern eher als Hilfestellung zur praktischen Umsetzung der Vorgaben Beachtung finden.

Erstellen von klinischen Bewertungen

Für den weiteren Prozessverlauf der Konformitätsbewertung ist es nicht nur wichtig, dass eine fundierte klinische Bewertung für ein Medizinprodukt vorhanden ist, sondern es ist auch wichtig, wie diese im Einzelnen gestaltet ist. Sprich, die Dokumentation muss nachvollziehbar sein und alle Ergebnisse müssen gemäß dem Standard des wissenschaftlichen Arbeitens begründet werden. Selbst negative oder für den Zweck des Produkts „unbrauchbare“ Ergebnisse dürfen nicht einfach abgelegt werden, sondern müssen mit logischer Begründung aufgeführt und gegebenenfalls ausgeschlossen werden. Es ist somit wichtig, die Forderungen an die klinische Bewertung genauestens zu erfüllen, denn dies kann auch bei einem Audit ein entscheidender Punkt sein.

Und für die Produkte mit hohem Risiko (Klasse III und implantierbare Produkte) ist hier noch höhere Sorgfalt geboten, denn: Ein Hinweis auf den „Kurzbericht über Sicherheit und klinische Leistung“ muss auf dem Label oder der Gebrauchsanweisung zu finden sein, sodass der Anwender als auch der Patient sich selber bestmöglich informieren kann. Hierzu ist es notwendig, in einem separaten Abschnitt des SSCP die wichtigsten klinischen Daten und Erkenntnisse zum Produkt in einer Laien-verständlichen Formulierung bereit zu stellen zusätzlich zu den Informationen für Fachanwender.

Wenn Sie Unterstützung beim Erstellen der Dokumente benötigen, wenden Sie sich gerne an die seleon GmbH. Mit einem Team aus erfahrenen Experten, die teilweise praktische Erfahrung aus der Medizin mit sich bringen, bieten wir Ihnen einen Rahmen, der Sie erfolgreich zu einer anforderungskonformen klinischen Bewertung bringt!

Bitte beachten Sie, dass alle Angaben und Auflistungen nicht den Anspruch der Vollständigkeit haben, ohne Gewähr sind und der reinen Information dienen.