Die Digitalisierung hält Einzug in allen Lebensbereichen, auch im Bereich der Gesundheitsvorsorge und Patientenüberwachung. Im Hintergrund bedeutet dies den Einsatz von Software. Doch wo werden die Grenzen gezogen, zwischen Software für die Patientenverwaltung, Software als eigenständiges oder Teil eines Medizinprodukts und wo ist die Schnittmenge zu einer Digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA)? Hierbei bietet u.a. MDCG 2019-11 „Qualification and classification of software – Regulation (EU) 2017/745 and Regulation (EU) 2017/746” Entscheidungshilfen an.

Software, die in Produkten enthalten ist und Standalone-Software/Medical Apps

In der medizinischen Anwendung gibt es verschiedene Softwarearten, die regulatorisch unterschieden werden:

  1. Software kann ein (Hardware-)Medizinprodukt direkt steuern (z.B. Software in einem Strahlentherapiegerät)
  2. Software kann unmittelbare entscheidungsrelevante Informationen liefern (z.B. Software in Blutzuckermessgeräten)
  3. Software kann das medizinische Fachpersonal unterstützen (z.B. Software für die Interpretation von Ultraschallbildern)
  4. Software kann verschiedene medizinische Parameter analysieren und Erkrankungen diagnostizieren (z.B. Herzinfarktrisiko anhand der Ultraschalbilder)
  5. Software kann die Mentalwerte beobachten und bei Risiken den Nutzer warnen (z.B. Smartwatch-App, die bei unregelmäßigen Herzschlägen Alarmbenachrichtigung an Nutzer sendet)
  6. Software kann zur Patientenverwaltung, Rechnungsstellung und Personalplanung in einem Krankenhaus verwendet werden

Nicht jede Software, die im Gesundheitswesen eingesetzt wird, ist auch ein Medizinprodukt. Aber wann ist meine Software ein Medizinprodukt und ist zulassungsrelevant?

Wann ist eine Software eine „Medical Device Software“ (MDSW)?

Bei der „Medizinprodukt“-Begriffsbestimmung legt die MDR den Fokus auf die Art des Produktes (Instrument, Apparat, Gerät, Software, Implantat, Reagenz, Material oder einen anderen Gegenstand) und auf die Zweckbestimmung des Produktes.

Die Europäische Kommission hat unter der Fragestellung „Is your software a Medical Device“ einen Entscheidungsbaum veröffentlich, um bei der Qualifizierung einer Software als MDSW zu unterstützen (Abbildung 1)

Abbildung 1: Entscheidungsschritte zur Unterstützung der Qualifizierung von Software für medizinische Geräte (MDSW) nach MDR

Der Leitfaden MDCG-2019-11 „Qualification and classification of software – Regulation (EU) 2017/745 and Regulation (EU) 2017/746 definiert Software als eine Reihe von Anweisungen, die Eingabedaten verarbeiten und Ausgabedaten erzeugen. Als Eingabedaten gelten alle Daten, die einer Software zur Verfügung gestellt werden, um die Ausgabedaten zu generieren. Als Eingabedaten können Daten,

  • die vom Menschen per Eingabegeräte eingegeben,
  • per Spracherkennung identifiziert oder
  • aus einem digitalen Dokument ausgelesen wurden,

dienen.

Ausgabedaten können unteranderem

  • die Bildschirmanzeigen,
  • Druckdaten,
  • Audiodaten oder
  • digitale Dokumente

sein.

Die Entscheidung, ob es sich um eine Medical Device Software handelt, kann gemäß dem Leitfaden Schritt für Schritt getroffen werden:

  • Entscheidung 1: Entspricht die Software nicht der Software-Definition, fällt sie nicht unter den MDCG-2019-11-Leitfaden.
  • Entscheidung 2: Steuert oder beeinflusst die Software das Medizinprodukt, erfüllt selbst keinen medizinischen Zweck und erzeugt keine Informationen für einen medizinischen Zweck, ist sie keine MDSW und gilt nur als Teil/Bestandteil oder als Zubehör eines Medizinproduktes, fällt nicht unter den MDCG-2019-11-Leitfaden, muss aber die Anforderungen der MDR erfüllen.
  • Entscheidung 3: Führt die Software keine Aktion mit Daten oder keine Aktion, die über Speicherung, Archivierung, Kommunikation, einfache Suche, verlustfreie Komprimierung hinausgeht, durch, ist sie keine MDSW, fällt nicht unter den MDCG-2019-11-Leitfaden und muss auch nicht die MDR-Anforderungen erfüllen.
  • Entscheidung 4: Dient die Software nicht dem Nutzen einzelner Patienten, sondern z.B. zum Zusammenführen von Daten einer Population oder für epidemiologische Studien, ist sie keine MDSW, fällt nicht unter den MDCG-2019-11-Leitfaden und muss auch nicht die MDR-Anforderungen erfüllen.

Software für Medizinprodukte (MDSW) ist Software, die dazu bestimmt ist, allein oder in Kombination für einen Zweck verwendet zu werden, der in der Definition eines „Medizinprodukts“ in der MDR oder IVDR festgelegt ist, unabhängig davon, ob die Software unabhängig ist oder die Verwendung eines Produkts steuert oder beeinflusst [MDCG-2019-11].

  • Entscheidung 5: Entspricht die Software nicht der MDSW-Definition, fällt sie nicht unter den MDCG-2019-11-Leitfaden und muss auch nicht die MDR-Anforderungen erfüllen.

Das Risiko einer Schädigung von Patienten, Benutzern der Software oder anderen Personen im Zusammenhang mit der Verwendung der Software im Gesundheitswesen, einschließlich einer möglichen Fehlfunktion ist kein Kriterium für die Einstufung der Software als MDSW.

Für die IVDR wurde ein ähnlicher Entscheidungsbaum veröffentlicht (Abbildung 2). Die einzelnen Entscheidungsschritte sind ebenfalls im Informationsdokumente der Europäischen Kommission beschrieben.

Abbildung 2: Entscheidungsschritte zur Unterstützung der Qualifizierung von Software für medizinische Geräte (MDSW) nach IVDR

Welche Klasse hat meine MDSW nach MDR oder IVDR?

Für die Klassifizierung nach MDR werden alle Durchführungsbestimmungen in Anhang VIII der MDR berücksichtigt, besonders 3.3 und 3.5.

Regel 11 der MDR ist für Software für Entscheidungen mit diagnostischen oder therapeutischen Zwecken oder Software zur Überwachung physiologischer Prozesse bestimmt, daher wird die meiste MDSW nach Regel 11 klassifiziert. Da aber die MDSW auch als aktives Medizinprodukt eingestuft wird, wären noch weitere Regeln der MDR anwendbar:

  • Regel 9 kategorisiert hauptsächlich die Risiken im Zusammenhang mit dem Austausch/der Abgabe von Energie zu therapeutischen Zwecken. Dies ist dann relevant, wenn die MDSW die Energieabgabe/den Energieaustausch indirekt steuert (direkt ist wegen der fehlenden Hardware nicht möglich). Standardmäßig wird die MDSW hier der Klasse IIa zugeordnet. Ist eine potentielle Gefährdung durch die Energieabgabe/den Energieaustausch möglich, wird die MDSW als Klasse IIb eingestuft. Gleiches würde gelten, wenn die MDSW (indirekt) Klasse IIb-Produkte steuert oder kontrolliert. Falls die MDSW die Leistung von aktiven implantierbaren Produkten (indirekt) steuert oder kontrolliert, wird sie sogar der Klasse III zugeordnet.
  • Regel 10 kategorisiert aktive Produkte zu Diagnose- und Überwachungszwecken und ist dann relevant, wenn die MDSW
    • eine Energieabgabe oder eine Verteilung von Radiopharmaka indirekt steuert oder
    • wenn sie die direkte Diagnose oder Kontrolle von vitalen Körperfunktionen ermöglicht.

Der Standardfall ist hier die Klasse IIa, im Zusammenhang mit der Ausleuchtung des Patienten im sichtbaren Spektralbereich sogar Klasse I, und bei der Kontrolle von vitalen physiologischen Parametern Klasse IIb, wenn hier eine unmittelbarer Gefahr für den Patienten droht. Steuert oder kontrolliert die MDSW (indirekt) Medizinprodukte für die radiologische Diagnostik oder Therapie bzw. interventionelle Radiologie, wird sie ebenfalls als Klasse IIb eingestuft.

  • Regel 12 – Aktive Produkte, die dazu bestimmt sind, Stoffe zu verabreichen und/oder zu entnehmen –> Nicht relevant, da MDSW keine Stoffe physisch verabreichen und/oder entfernen können.
  • Regel 13 – Alle anderen aktiven Produkte –> relevant, falls keine andere Regel gilt –> Klasse I
  • Regel 15 – Produkte zur Empfängnisverhütung –> relevant für MDSW, die zur Empfängnisverhütung eingesetzt wird –> wird der Klasse IIb zugeordnet
  • Regel 22 – Geschlossene Kreislaufsysteme –> Beeinflusst/unterstützt die MDSW ein aktives therapeutisches Produkt mit integrierter oder eingebauter diagnostischer Funktion, die das Patientenmanagement durch das Produkt erheblich bestimmt, wird sie der Klasse III zugeordnet.

Für die Klassifizierung nach IVDR werden alle Klassifizierungs- und Durchführungsbestimmungen in Anhang VIII der IVDR berücksichtigt. Für IVDR-MDSW sind alle Klassifizierungsregel relevant.

Gibt es überhaupt noch MDSW mit Klasse I unter der MDR?

Im Anhang III des MDCG 2019-11 (Usability of the IMDRF risk classification framework in the context of the MDR) ist eine Tabelle enthalten, die den Patientenstatus (Non-serious, Serious, Critical) dem Einfluss der MDSW auf den Patientenstatus bzgl. Diagnose oder Therapie gegenüberstellt, um bei der Interpretation der Regel 11 des Anhang VIII der MDR zu helfen.

Abbildung 3: Klassifizierungsleitlinien zu Regel 11

Auffällig ist hier, dass Klasse I nicht vorkommt. Bedeutet das nun, dass es keine MDSW Medizinprodukte der Klasse I unter der MDR gibt?

Die klare Antwort lautet: Nein.

Wenn bei Regel 11 die ersten beiden Abschnitte nicht passen oder keine der Zuordnungen der Regeln 9 bis 12 im Anhang VIII der MDR, wird automatisch Regel 13 relevant, d.h. die MDSW hat die Klasse I. Dies kann der Fall sein bei MDSW, die bspw. durch die Bereitstellung von zugeschnittenen Informationen einen Beitrag leistet zur Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung von Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen. Der MDCG 2019-11 Leitfaden gibt im Annex IV (Classification examples) selbst ein Beispiel dafür: Eine MDSW-App zur Unterstützung der Empfängnis durch Berechnung des Fruchtbarkeitsstatus des Nutzers auf der Grundlage eines validierten statistischen Algorithmus hat nach Regel 11c die Klasse I.

Wie relevant sind diese „Basics“ für meine DiGA?

Die Qualifizierung als MDSW und Klassifizierung nach MDR sind wichtige Bestandteile der Zulassung einer Software als DiGA, da Hersteller von Digitalen Gesundheitsanwendungen nachweisen müssen, dass:

  • die DiGA ein Medizinprodukt ist,
  • die DiGA eine medizinische Zweckbestimmung besitzt,
  • die DiGA eine niedrige Risikoklasse hat (Klasse I oder IIa nach MDR oder im Rahmen der Übergangsvorschriften der MDR, nach MDD) –> geplant ist eine Ausweitung auf Klasse IIb,
  • die DiGA-Hauptfunktion auf digitaler Technologie beruht,
  • die DiGA Funktionalitäten zur Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung von Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen nachweisen kann,
  • die DiGA in den Versorgungsprozess integrierbar ist.

Fast alle diese Anforderungen sind auch die Merkmale einer MDSW. Sie möchten noch mehr über die Anforderungen an eine DiGA erfahren? Lesen Sie hier auf unserem Blog nach.

Sie sind durch Zufall auf diesen Artikel gestoßen und wussten noch gar nicht, dass Ihre geplante App unter die MDR oder die IVDR fallen könnte? Sie sind noch neu im regulatorischen Dschungel der Verordnungen? Finden Sie gemeinsam mit uns einen Weg.

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